Was uns wirklich trägt – Stütze neu denken, Orientierung neu finden


"Stütze!" – ein Begriff, der Musikerinnen und Musiker seit Generationen begleitet. Besonders in der Welt der Blech- und Holzbläser ist er zentraler Bestandteil des Unterrichts. Doch je länger man sich mit ihm beschäftigt, desto deutlicher wird: Was genau damit gemeint ist, bleibt oft vage.

Die einen sprechen von Bauchspannung, andere von Gegendruck, wieder andere von einem inneren Halten oder "Atemboden". All diese Bilder können hilfreich sein – aber sie bleiben subjektiv. Und genau das ist das Problem: Stütze ist für viele ein Gefühl, aber selten ein nachvollziehbares Prinzip.

Die Kraft der Bilder – und ihre Grenze

Musik lebt von Bildern. Von inneren Vorstellungen, von Metaphern, von sinnlicher Erfahrung. Das gilt auch für Körperarbeit. Aber: Wenn wir diffuse Wahrnehmungen in Begriffe gießen und sie von Generation zu Generation weitergeben, ohne sie funktionell zu verankern, entsteht ein Sprachsystem, das einerseits reich ist – und andererseits verwirrend.

Denn was passiert, wenn jeder etwas anderes unter "Stütze" versteht? Wenn wir nicht wissen, was genau da gehalten, kontrolliert oder aktiviert werden soll? Dann entsteht ein Begriff, der zugleich zentral und ungreifbar ist. Und das ist für Lehre, Praxis und Entwicklung auf Dauer ein Problem.

Ein Blick auf das, was wirklich trägt

Unter dem Herzen sieht man die aufgewölbte Zwerchfellkuppel – doch die eigentliche Zone of Apposition ist hier kaum zu erkennen.
Sie wäre dort sichtbar, wo das Zwerchfell senkrecht an der Innenseite des unteren Brustkorbs anliegt.
Was fehlt, ist nicht das Zwerchfell – sondern seine Funktion.



In der funktionellen Anatomie gibt es einen Begriff, der genau hier ansetzt: die Appositionszone (engl. Zone of Apposition, kurz ZOA). Während die ZOA im englischsprachigen Raum zunehmend Beachtung findet, ist sie im deutschsprachigen Therapie- und Trainingskontext bislang kaum bekannt.

Ursprünglich stammt dieser Begriff aus der Atemphysiologie und wurde durch die  Arbeit des Postural Restoration Institute (PRI)  neu aufgegriffen und konkretisiert. Sie beschreibt den Bereich, in dem das Zwerchfell an der Innenseite des unteren Brustkorbs anliegt. Nur wenn dieser Bereich erhalten bleibt, kann das Zwerchfell effizient arbeiten: für die Atmung, für die Haltung, für die Regulation des Drucks im Körper.

Die ZOA ist kein Bild, sondern ein funktioneller Zustand. Sie ist messbar, trainierbar, spürbar – auch wenn sie nicht sichtbar ist. Und sie hat unmittelbare Auswirkungen auf das, was Musikerinnen und Musiker seit jeher versuchen zu beschreiben: einen Ton tragen, ohne ihn zu pressen. Atmen, ohne in sich zusammenzufallen. Spannung halten, ohne sich zu verspannen.

Ein Polarstern – nicht nur hilfreich, sondern notwendig

Die Appositionszone ist kein Rezept, keine Methode, kein Dogma. Sie ist eher wie ein Polarstern am biomechanischen Himmel: ein funktioneller Orientierungspunkt, der nicht nur hilfreich ist – sondern notwendig. Wer sich dauerhaft ohne funktionelle Appositionszone bewegt oder spielt, kompensiert – bewusst oder unbewusst.

Und ja: Man kann weit kommen mit solchen Kompensationen. Viele Musiker entwickeln beeindruckende Strategien, um trotz struktureller Instabilität leistungsfähig zu bleiben. Aber: Das System wird dadurch nicht freier – nur komplexer stabilisiert.

Und weil diese funktionalen Zusammenhänge kaum bekannt sind, sagt fast nie jemand:

„Hey, du kompensierst da gerade. Das geht auch anders.“

Stattdessen bleibt man auf der Oberfläche: mit Atemtipps, Haltungshinweisen, Massage – alles hilfreich, aber selten systemisch.

Die Appositionszone ist kein Nice-to-have. Sie ist eine Grundlage – nicht nur für das Spielen, sondern für Bewegung, Atmung, Stabilität und Selbstregulation. Man muss sie nicht benennen können. Aber man spürt die Konsequenzen, wenn sie fehlt.

Kann man das überhaupt vermitteln?

Vielleicht fragst du dich: Ist das nicht alles zu komplex? Kann man die Appositionszone wirklich vermitteln – ohne biomechanisches Fachwissen?

Die Antwort lautet: Ja – wenn man beim Körper beginnt, nicht bei der Theorie.

Denn was die Appositionszone beschreibt – eine zentrierte Brustkorbposition, ein kontrolliertes Ausatmen, ein frei arbeitendes Zwerchfell – ist etwas, das jeder Mensch spüren kann, wenn er durch die richtigen Übungen geführt wird.

Das braucht keine Fachbegriffe, sondern klare Prinzipien:

  • Der Brustkorb soll sich nicht nur nach vorne, sondern auch zur Seite und nach hinten bewegen können.

  • Die Ausatmung soll nicht einfach "rausfallen", sondern langsam geführt werden.

  • Die Spannung im Bauch kommt nicht von Kraft, sondern von Kontrolle.

Wenn diese Prinzipien im Körper spürbar werden, entsteht Verständnis. Und dann kann man sie benennen oder nicht. Die Wirkung bleibt.

Orientierung statt Umbenennung

Vielleicht ist es an der Zeit, den Begriff Stütze – so wie er jahrzehntelang verwendet wurde – behutsam zu hinterfragen. Nicht, weil er falsch ist. Sondern weil er oft unklar bleibt. Und weil wir heute über Wissen verfügen, das ihn neu fundieren könnte.

Der Begriff der Appositionszone bietet genau das: keine Metapher, sondern ein klar beschriebener Zustand, an dem wir uns orientieren können – auch wenn wir ihn nicht vollständig greifen.

Es geht nicht darum, Stütze zu ersetzen. Es geht darum, ihr einen funktionellen Boden zu geben. Damit sie nicht länger ein Gefühl bleibt – sondern ein Prinzip wird, das trägt.

PS: Ich arbeite aktuell an einem neuen Atemkurs, in dem es unter anderem genau darum geht, die Zone of Apposition (ZOA) praktisch zu verstehen, körperlich aufzubauen und in den Alltag – oder ins Musikerleben – zu integrieren.
Dabei beleuchten wir nicht nur die Rolle des Zwerchfells, sondern auch viele weitere Themen rund um Atmung, Haltung, Nervensystem und innere Ordnung.

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