Stütze im Wandel – Wie sich ein zentraler Begriff der Musikgeschichte entwickelt hat


In diesem Artikel werfen wir einen Blick zurück: Woher kommt der Begriff? Was meinten verschiedene Schulen damit? Und warum lohnt es sich gerade heute, die Idee der "Stütze" neu zu überdenken?

1. Belcanto & Appoggio – die Wurzeln im italienischen Gesang

Bereits im 17. und 18. Jahrhundert sprach man in der italienischen Belcanto-Tradition von "appoggiarsi": sich abstützen, sich anlehnen. Der Begriff "Appoggio" bezeichnete dabei weniger eine Technik als eine innere Haltung – ein balanciertes Ausrichten des Körpers und Atems auf den Klang. Die Stimme sollte "getragen" wirken, nicht gedrückt.

Appoggio war kein muskulärer Befehl, sondern ein sensomotorisches Erleben: Brustkorb, Atem und Stimme in ein Gleichgewicht zu bringen, das Spannung und Weite vereint. Die großen Gesangsmeister jener Zeit – etwa Pier Francesco Tosi oder Manuel García – sprachen vom "Auflegen der Stimme" und der "ruhigen Atemstütze", ohne je muskuläre Anspannung einzufordern.

Noch heute wird diese Tradition an vielen Opernhäusern gepflegt – oft mit großer künstlerischer Tiefe, aber ohne exakte anatomische Grundlage. Die Vorstellungskraft stand im Vordergrund, nicht das körperliche Verständnis.

2. Die deutsche Schule – zwischen Spannung, Gegendruck und "Stauen"

Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich im 19. und 20. Jahrhundert ein anderer Zugang: Die Idee der Stütze wurde zunehmend mit muskulärer Kontrolle, Bauchspannung und intraabdominalem Druck verbunden. Pädagogen wie Franziska Martienssen-Lohmann differenzierten dabei zwischen italienischem Appoggio und deutscher "Stütze" – und warnten teils vor einer zu mechanischen Umsetzung.

Ein bekanntes Zitat von ihr lautet: „Stütze ist nicht gleich Spannung, sondern gebändigte Atemkraft.“ Dennoch entstanden daraus viele Interpretationen, die stark in Richtung Kraft und Kontrolle gingen.

In der Bläserpädagogik etablierte sich ein buntes Spektrum:

  • "Du musst stützen!" – oft verbunden mit bewusstem Anspannen der Bauchmuskulatur

  • "Stauprinzip" – Luftdruck halten bei geschlossener Glottis

  • "Die Mitte aktivieren" – ein eher energetisches, aber unklar definiertes Konzept

Viele dieser Bilder stammen aus dem Versuch, ein subjektives Gefühl zu vermitteln. Doch funktionelle Kriterien fehlten – und so wurde Stütze oft zum Synonym für angestrengtes Spielen.

Anekdotisch berichten Musiker bis heute von Professoren, die zum Beispiel sagten: „Denk an einen Boxsack im Bauch.“ Oder: „Stell dir vor, du drückst gegen eine Wand.“ Was hier als Bild gedacht war, wurde oft zur übermäßigen Körperspannung.

3. Der Begriff heute – Vielfalt und Verwirrung

Heute gibt es eine beeindruckende Bandbreite an Meinungen zur Stütze – sowohl in Hochschulen als auch in Online-Foren, Meisterklassen oder Bläserliteratur. Manche verbinden Stütze mit Kraft, andere mit Entspannung. Manche lehren sie als Technik, andere lehnen sie als Begriff ab.

Einige zentrale Unterschiede:

  • Körperbildbasiert vs. funktionell erklärbar

  • Individuell erfühlt vs. trainierbar und übertragbar

  • Metaphorisch vs. anatomisch begründet

Diese Vielfalt zeigt: Stütze ist kein klar definierter Begriff – sondern ein Container für sehr unterschiedliche Erfahrungen und Annahmen. Eine Online-Suche nach „Stütze beim Blasinstrument“ liefert dutzende widersprüchliche Erklärungen – von „beim Ausatmen gegenhalten“ bis hin zu „einfach locker lassen“.

4. Ein neuer Blick: funktionelle Orientierung statt Gefühlssprache

Vielleicht ist es an der Zeit, die Diskussion um "Stütze" auf ein neues Fundament zu stellen – ohne das Alte zu entwerten. Denn während sich die Begriffe über Jahrzehnte verändert haben, bleibt das Ziel gleich: musikalischer Ausdruck durch körperliche Tragfähigkeit.

Ein neuer Weg liegt nicht in der Ablösung aller bisherigen Modelle, sondern in ihrer Ergänzung durch funktionelle Prinzipien. Wer sich für diesen Zugang interessiert, findet im Artikel zur Zone of Apposition (ZOA) einen vertiefenden Einblick in die biomechanische Grundlage eines tragenden Körpers.

👉 Zum Artikel: „Was die Appositionszone mit Stütze zu tun hat“





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Was uns wirklich trägt – Stütze neu denken, Orientierung neu finden